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  Am 13. März 1881 ereilte die Juden ein schlimmes Verhängnis: Zar Alexander II. fiel einem Attentat zum Opfer, und einer der Attentäter war ein jüdisches Mädchen. Jahre des Schreckens folgten. Verzweifelt suchten die in dem südrussischen Wohngebiet lebenden Juden nach einem rettenden Ausweg, einer Lösung ihrer Probleme. Sie machten tausend Vorschläge. Einer war unrealer als der andere. In vielen Ghetti meldete sich eine neue Stimme zum Wort, eine Gruppe, deren Mitglieder sich Chovevej Zion nannten — die Zionsfreunde.

  Gleichzeitig mit den Zionsfreunden erschien eine Schrift aus der Feder Leo Pinskers über die Ursachen und die Lösung des jüdischen Problems, die den Nagel auf den Kopf zu treffen schien. Pinsker erklärte darin, der einzige Weg aus dem russischen Ghetto sei die Befreiung aus eigener Kraft.

  Gegen Ende des Jahres 1881 brach eine Gruppe jüdischer Studenten mit dem Wahlspruch: »Beth Jakov Lelechu wenelchu — Haus Jakobs, laßt uns ziehen!« von Romny nach Palästina auf. Diese Gruppe kühner Abenteurer, vierzig an der Zahl, wurde weit und breit unter dem aus den Anfangsbuchstaben ihres Wahlspruchs abgeleiteten Namen »Bilu« bekannt.

  Die Biluim gingen daran, in Palästina kleine bäuerliche Siedlungen ins Leben zu rufen. Bis zum Jahre 1884 gab es bereits ein halbes Dutzend solcher Siedlungen im Heiligen Lande. Sie waren klein und schwach und hatten mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen.

  In Schitomir und in allen anderen Städten des russischen Wohngebiets fanden Abend für Abend heimlich Versammlungen statt. Die Jugend begann zu rebellieren und neue Wege zu gehen. Jakob Rabinski, der jüngere der beiden Brüder, wurde von den neuen Ideen ergriffen und entflammt. Manche Nacht lag er schlaflos in dem Alkoven der Werkstatt, den er mit seinem Bruder Yossi teilte, und starrte in die Dunkelheit. Er dachte daran, wie wunderbar es sein mußte, kämpfen zu können! Wie wunderbar, aufzubrechen und wirklich nach Palästina zu kommen! Jakobs Gedanken waren erfüllt von der ruhmreichen Vergangenheit der Hebräer. Oftmals stellte er sich vor, er würde an der Seite Judas kämpfen, des »Hammers« zu der Zeit, da die Makkabäer die Griechen aus Judäa vertrieben hatten.

  Als die Zionsfreunde nach Schitomir kamen, lief Jakob sofort zu ihren Versammlungen. Ihre Botschaft von der Befreiung der Juden aus eigener Kraft war Musik in seinen Ohren. Die Zionsfreunde hätten gern auch seinen Bruder Yossi für sich gewonnen, weil er so groß und so stark war. Doch Yossi näherte sich diesen radikalen Ideen nur zögernd, weil er seinen Vater ehrte, wie Gott es befohlen hatte. Doch als sein Bruder Jakob eines Abends zu dem Kerzenmacher Cohen gegangen war, in dessen Werkstatt ein richtiger Bilu sprach, der zu Besuch aus Palästina gekommen war, hielt es auch Yossi vor Neugier nicht mehr aus. Er wollte alles ganz genau wissen — wie der Bilu ausgesehen hatte, was er gesagt hatte, alles.

  »Ich finde, Yossi, das nächstemal solltest du wirklich mitkommen«, sagte Jakob.

  Yossi seufzte. Ging er hin, würde er damit zum erstenmal in seinem Leben den Wünschen seines Vaters offen zuwiderhandeln.

  »Also gut«, sagte er leise zu Jakob, »ich komme mit.« Und danach betete er den ganzen Tag inbrünstig um Vergebung für das, was er zu tun beabsichtigte.

  Die beiden Brüder sagten ihrem Vater, sie wollten für einen Freund der Familie, der kürzlich gestorben war, Kaddisch beten. Sie verließen das Haus und begaben sich eilig zu der Werkstatt des Kerzenmachers. Es war eine kleine Kellerwerkstatt, ganz der ihres Vaters ähnlich. Es roch nach Wachs und Duftstoffen. Die Fenstervorhänge waren zugezogen. Draußen auf der Straße waren Wachen postiert. Der Raum war voller Menschen, und Yossi war überrascht, so viele bekannte Gesichter zu sehen. Der Redner stammte ursprünglich aus Odessa und hieß Wladimir.

  Wladimir war ganz anders als die Juden von Schitomir, sowohl seinem Äußeren als auch seinem Benehmen nach. Er trug weder Bart noch Schläfenlocken. Er hatte Stiefel an und eine dunkle Lederjacke. Jakob war hingerissen, als er zu sprechen begann, doch unter den Zuhörern gab es mehrere, die dem Redner ins Wort fielen und mißtrauische Fragen an ihn richteten.

  »Bist du der Messias, der gekommen ist, uns in das Land unserer Väter zu führen?« rief einer von ihnen.

  »Hast du den Messias unter deinem Bett gefunden, als du dich beim letzten Pogrom darunter verstecktest?« erwiderte Wladimir.

  »Wie kann ich sicher sein, daß du nicht ein Spitzel des Zaren bist?« fragte ein anderer.

  »Wie kannst du sicher sein, daß du nicht das nächste Opfer des Zaren sein wirst?« schlug Wladimir zurück.

  Es wurde ruhig im Raum. Wladimir sprach leise und eindringlich. Er rief seinen Zuhörern alles ins Gedächtnis, was die Juden in Polen und in Rußland erlitten hatten, er dehnte seinen zusammenfassenden Rückblick auf Deutschland und Österreich aus, sprach von den Vertreibungen der Juden aus England und Frankreich, von den Pogromen in Bray und York, in Speyer und Worms. Und er sprach von der spanischen Inquisition, einer der schrecklichsten Leidenszeiten, in deren Verlauf unvorstellbare Greuel gegen die Juden im Namen der Kirche verübt worden waren. Und schließlich sagte Wladimir: »Kameraden, alle Nationen dieser Erde haben uns verhöhnt und erniedrigt. Wir müssen uns erheben und wieder zu einer Nation werden. Das ist unsere einzige Rettung. Pinsker hat dies erkannt, und die Zionsfreunde und die Biluim wissen es und handeln danach. Wir müssen das Haus Israel neu erbauen!«

  Jakob schlug das Herz, als er mit seinem Bruder die Versammlung verließ. »Nun, Yossi, was habe ich dir gesagt? Und du hast heute abend gesehen, sogar Rabbi Lipzin war da.«

  »Ich muß es mir überlegen«, sagte Yossi abwehrend. Dabei war er sich ebenso wie Jakob bereits klar, daß Wladimir recht hatte. Dies war ihre einzige Rettung.

  Als sie nach Haus kamen, stand Simon Rabinski in seinem langen Nachthemd hinter seiner Werkbank, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Auf der Werkbank brannte eine Kerze.

  »Guten Abend, Papa«, sagten beide rasch und wollten in ihrem Alkoven verschwinden.

  »Yossi, Jakob!« rief Simon. Beide gingen langsam zu ihm hin und blieben vor der Schusterbank stehen.

  Die Mutter machte die Tür auf und sah blinzelnd herein. »Simon«, sagte sie, »sind die Jungens zu Hause?«

  »Sie sind zu Hause.«

  »Sag ihnen, sie sollten nicht so spät am Abend auf der Straße bleiben.«

  »Ja, Mama«, sagte Simon. »Geh jetzt wieder schlafen. Ich werde mit ihnen reden.«

  Simon sah von Jakob zu Yossi und wieder zu Jakob. »Ich muß Frau Horowitz morgen erzählen, daß ihr Mann gewiß in Frieden ruhen kann, weil meine beiden Söhne heute abend für ihn Kaddisch gebetet haben.«

  Es war Yossi unmöglich, seinem Vater gegenüber unehrlich zu sein. »Wir haben gar nicht für Reb Horowitz gebetet«, murmelte er.

  Simon Rabinski tat überrascht und hob die Hände in die Höhe.

  »So, so! Nun, ich hätte es mir denken können. Ihr wart gewiß auf Freiersfüßen. Grad heut war Abraham, der Heiratsvermittler, hier bei mir im Laden. Er sagte zu mir, Simon Rabinski, sagte er, einen schönen Sohn hast du da an deinem Yossi. Er wird dir eine gute Mitgift von der Familie eines reichen Mädchens bringen — stell dir vor, Yossi, er will schon jetzt eine Braut für dich aussuchen.«

  »Wir waren nicht auf Brautschau«, sagte Yossi und schluckte. »Nein? Nicht auf Brautschau und nicht zum Kaddisch? Vielleicht wart ihr noch einmal in der Synagoge?«

  »Nein, Vater«, sagte Yossi fast unhörbar.

  Jakob hielt es nicht länger aus. »Wir waren in einer Versammlung der Zionsfreunde!« sagte er.

  Yossi sah seinen Vater verlegen an, wurde rot und nickte. Jakob machte ein trotziges Gesicht. Er schien froh zu sein, daß es heraus war. Simon seufzte und sah seine beiden Söhne lange Zeit schweigend und eindringlich an.

  »Ich bin gekränkt«, sagte er schließlich.

  »Deshalb hatten wir dir ja auch nichts davon gesagt, Vater«, sagte Yossi. »Wir wollten dich nicht kränken.«

  »Ich bin nicht gekränkt, weil ihr zu einer Versammlung der Zionsfreunde gegangen seid. Ich bin gekränkt, weil die Söhne von Simon Rabinski so gering von ihrem Vater denken, daß sie sich ihm nicht mehr anvertrauen.« Jetzt wand sich auch Jakob verlegen. »Aber«, sa
gte er, »wenn wir es dir gesagt hätten, dann hättest du uns vielleicht verboten, hinzugehen.«

  »Sag mir, Jakob — wann habe ich euch jemals verboten, Wissen zu erwerben? Habe ich euch jemals ein Buch verboten? Gott verzeih mir — selbst, als es euch in den Sinn kam, das Neue Testament lesen zu wollen — habe ich es euch verboten?«

  »Nein, Vater«, sagte Jakob.

  »Mir scheint, es ist höchste Zeit, daß wir einmal miteinander reden«, sagte Simon.

  Yossis rotes Haar leuchtete im Schein der Kerze. Er war um einen halben Kopf größer als sein Vater. Er sprach fest und bestimmt. Yossi war zwar langsam von Entschluß, doch wenn er sich erst einmal entschlossen hatte, blieb er dabei. »Jakob und ich haben dir nichts davon gesagt, weil wir wissen, was du von den Zionsfreunden und den neuen Ideen hältst, und weil wir dich nicht verletzen wollten. Aber ich bin froh, daß ich heute abend hingegangen bin.« »Auch ich finde es gut, daß du hingegangen bist«, sagte Simon. »Rabbi Lipzin möchte gern, daß ich in die Mannschaft zur Verteidigung des Ghettos eintrete«, sagte Yossi.

  »Rabbi Lipzin bricht mit so vielen Traditionen, daß ich mich allmählich frage, ob er überhaupt noch ein Rabbi ist«, sagte Simon. »Das ist es ja gerade, Vater«, sagte Yossi. »Du hast Angst vor den neuen Ideen.« Es war das erstemal, daß Yossi so zu seinem Vater sprach, und er schämte sich im gleichen Augenblick.

  Simon kam hinter seiner Werkbank hervor, legte seinen Söhnen die Hände auf die Schultern, führte sie zu ihrem Alkoven und bat sie, sich auf die Betten zu setzen. »Meint ihr denn, ich wüßte nicht genau, was in euren Köpfen spukt? Neue Ideen, wahrhaftig! Von Emanzipation und Ghettoverteidigung war genauso die Rede, als ich in eurem Alter war. Ihr macht nur eine Krise durch, die jeder Jude durchmachen muß — um seinen Frieden mit der Welt zu machen — um zu wissen, wo sein Platz in der Welt ist. Ich habe als junger Mensch sogar einmal daran gedacht, den christlichen Glauben anzunehmen!«

  Yossi war verblüfft. Sein Vater hatte daran gedacht, zu konvertieren!

  »Warum sollte es falsch sein, daß wir uns verteidigen wollen?« fragte Jakob. »Warum wird es von unseren eigenen Leuten als Sünde betrachtet, wenn wir versuchen, uns bessere Lebensbedingungen zu verschaffen?«

  »Du bist Jude«, antwortete sein Vater, »und das bringt bestimmte Verpflichtungen mit sich.«

  »Auch die Verpflichtung, daß ich mich unter meinem Bett verkrieche, wenn man mich töten will?« sagte Jakob laut und heftig.

  »Sprich nicht so mit Vater«, sagte Yossi.

  »Niemand hat behauptet, es sei leicht, Jude zu sein. Wir sind nicht da, um von den Früchten dieser Erde zu leben. Wir sind in die Welt gestellt, um über die Gebote Gottes zu wachen. Das ist unsere Mission. Das ist unsere Aufgabe.«

  »Und das ist unser Lohn!« gab Jakob heftig zurück.

  »Der Messias wird erscheinen und uns in das Land unserer Väter führen, wenn der Herr in seiner Güte die Zeit für gekommen hält«, sagte Simon, unverändert ruhig und gelassen. »Und ich glaube nicht, daß es Jakob Rabinski ansteht, Zweifel zu hegen an der Weisheit des Herrn. Ich glaube vielmehr, daß es Jakob Rabinski ansteht, zu leben nach den Geboten der heiligen Thora.«

  Jakob schossen vor Zorn die Tränen in die Augen. »Ich zweifle nicht an Gottes Geboten«, rief er, »aber ich zweifle an der Weisheit einiger Männer, die diese Gebote auslegen.«

  Es trat eine kurze Stille ein. Yossi schluckte. Noch nie hatte irgend jemand so zu seinem Vater gesprochen. Und doch bewunderte er heimlich den Mut seines Bruders. Denn Jakob hatte gewagt, die Frage zu stellen, die er selbst nicht zu stellen wagte.

  »Wenn wir nach Gottes Ebenbild erschaffen sind«, fuhr Jakob fort, »dann ist der Messias in uns allen lebendig, und der Messias in meiner Brust sagt mir unablässig, daß ich mich erheben und zurückschlagen soll. Er sagt mir unablässig, daß ich mich mit den Zionsfreunden auf den Weg in das Gelobte Land machen soll. Das ist es, Vater, was mir der Messias sagt.«

  Simon Rabinski blieb unerschütterlich. »Wir sind im Laufe unserer Geschichte immer wieder von Männern heimgesucht worden, die sich fälschlich als Messias bezeichneten. Ich fürchte, daß auch du jetzt einem solchen falschen Messias dein Ohr leihst.«

  »Und woran soll ich den wahren Messias erkennen?« fragte Jakob herausfordernd.

  »Die Frage ist nicht, ob Jakob Rabinski den Messias erkennt. Die Frage ist, ob der Messias den Jakob Rabinski erkennen wird. Wenn Jakob Rabinski von Gottes Geboten abweicht und falschen Propheten sein Ohr leiht, dann wird der Messias ohne Zweifel erkennen, daß Jakob Rabinski aufgehört hat, Jude zu sein. Ich möchte Jakob Rabinski daher empfehlen, weiterhin als ein Jude zu leben, wie es sein Vater und seines Vaters Väter getan haben.«

  IV.

  »Schlagt die Juden tot!«

  Ein Steinschlag durchschlug das Fenster des Seminars. Eilig brachte der Rabbi seine Schüler durch den hinteren Ausgang in die Sicherheit des Kellers. Durch die Straßen hasteten Juden, die sich in wilder Flucht vor einer aufgebrachten Meute von mehr als tausend Primanern und Kosaken in Sicherheit zu bringen versuchten.

  »Schlagt die Juden tot!« schrien sie. »Schlagt die Juden tot!«

  Wieder einmal fand ein Pogrom statt, inszeniert von Andrejew, dem buckligen Direktor des Städtischen Gymnasiums und dem größten Judenhasser von Schitomir. Andrejews Schüler zogen randalierend durch das Ghetto, zertrümmerten die Schaufenster, schleppten alle Juden, die sie erwischten, auf die Straße und schlugen erbarmungslos auf sie ein.

  »Schlagt sie tot, die Juden — schlagt sie tot — schlagt sie tot!«

  Jakob und Yossi hielt es nicht im Keller des Seminars. Sie rannten durch schmale Gäßchen und ausgestorbene Seitenstraßen nach Haus, um ihre Eltern zu beschützen. Mehrfach mußten sie ausweichen und in Deckung gehen, wenn sich das Getrappel der Kosakenpferde und das blutrünstige Geschrei der Menge näherte. Sie bogen in die Straße ein, in der die Werkstatt ihres Vaters lag, und prallten auf ein Dutzend junger Burschen mit bunten Mützen. Schüler von Andrejew.

  »Da sind zwei von denen!«

  Jakob und Yossi machten kehrt und liefen davon, um das Rudel der Verfolger von der Wohnung ihrer Eltern abzulenken. Mit Gejohle setzten die Gymnasiasten den beiden Brüdern nach. Lange ging die Jagd kreuz und quer durch die Straßen und Gäßchen, über Hinterhöfe und Gartenzäune, bis die Verfolger sie in einer Sackgasse stellten. Yossi und Jakob standen mit dem Rücken gegen die Wand, schwitzend und keuchend, während die Angreifer einen Halbkreis bildeten und auf sie eindrangen. Ihr Anführer trat mit funkelnden Augen vor, schwang ein Eisenrohr und holte aus zum Schlag auf Yossi.

  Yossi wehrte den Schlag ab, packte den Angreifer, hob ihn hoch und warf ihn der übrigen Meute entgegen. Jakob nahm zwei von den Steinen, die er immer bei sich trug, aus einer Tasche und schleuderte sie gegen die Köpfe zweier Angreifer, die bewußtlos zu Boden fielen. Die anderen Gymnasiasten stoben in wilder Flucht davon.

  Die beiden Brüder stürzten nach Haus und rissen die Tür der Werkstatt auf.

  »Mama! Papa!«

  Die Werkstatt war ein Trümmerfeld.

  »Mama! Papa!«

  Sie fanden ihre Mutter, die wie von Sinnen in einer Ecke kauerte. Yossi schüttelte sie heftig. »Wo ist Papa?«

  »Die Thora!« schrie sie. »Die Thora!«

  In diesem Augenblick wankte, sechs Querstraßen weiter, Simon Rabinski in die brennende Synagoge und bahnte sich keuchend den Weg zum Ende des Raumes, dorthin, wo der Thoraschrein stand. Er zog die Vorhänge beiseite, auf denen die Zehn Gebote geschrieben standen, und holte das Sefer Thora herunter, die Rolle mit den Geboten Gottes.

  Simon drückte das heilige Pergament an seine Brust, um es vor den Flammen zu schützen, und wankte zur Tür zurück. Er hatte schwere Verbrennungen erlitten und war dem Ersticken nahe. Er wankte durch die Tür nach draußen und fiel auf die Knie.

  Zwanzig der Schüler Andrejews erwarteten ihn.

  »Schlagt den Juden tot!«

  Simon kroch noch ein paar Meter auf den Knien weiter, dann brach er zusammen und beschützte, am Boden liegend, das Sefer Thora mit seinem Leib. Knüppel zerschmetterten seinen Schädel, g
enagelte Schuhe traten ihm ins Gesicht.

  »Schlagt den Juden tot!«

  In seiner Todesqual rief Simon Rabinski laut: »Höre, o Israel — der Herr ist unser Gott!«

  Simon Rabinski war, als man ihn fand, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das Sefer Thora, die Rolle mit den Geboten, die Gott dem Moses verkündet hatte, war dem Alten vom Mob abgenommen und verbrannt worden.

  Das ganze Ghetto von Schitomir betrauerte seinen Tod. Er hatte den ehrenvollsten Tod erlitten, den es für einen Juden geben konnte. Er hatte das Sefer Thora mit seinem Leib geschützt! Er wurde zusammen mit einem Dutzend anderer bestattet, die gleich ihm bei Andrejews Pogrom umgebracht worden waren.

  Für Rachel Rabinski war der Tod ihres Mannes nur eine weitere Tragödie im Verlauf eines Lebens, in dem sie kaum etwas anderes gekannt hatte als Kummer und Sorgen. Doch diesmal ging es über ihre Kraft. Auch ihre Söhne waren ihr kein Trost. Man brachte sie zu Verwandten, die in einer anderen Stadt wohnten. Yossi und Jakob gingen jeden Tag zweimal zur Synagoge, um für ihren Vater Kaddisch zu beten. Yossi mußte daran denken, wie sehr sein Vater bestrebt gewesen war, das Leben eines Juden zu führen, damit ihn der Messias erkenne. Es war seine Lebensaufgabe gewesen, über Gottes Gebote zu wachen. Vielleicht hatte sein Vater recht gehabt — vielleicht war es nicht ihr Los, von den Früchten der Erde zu leben, sondern als Wächter der göttlichen Gebote zu dienen. In seinem Schmerz versuchte Yossi, eine Erklärung für den grausamen Tod seines Vaters zu finden.

  In Jakob sah es anders aus. Sein Herz war voller Haß, und selbst wenn er zur Synagoge ging, um das Klagegebet für seinen Vater zu sprechen, sann er auf Rache. Er war unruhig und voller Bitterkeit. Er schwor grimmig, den Tod seines Vaters zu rächen.

  Yossi, der wußte, wie es um seinen Bruder stand, ließ ihn nicht aus den Augen. Er versuchte, ihn zu beruhigen und zu trösten, doch Jakob war untröstlich.

  Einen Monat nach dem Tod von Simon Rabinski schlich sich Jakob eines Nachts, während Yossi schlief, heimlich aus der Werkstatt. In seinem Gürtel hatte er ein langes scharfes Messer versteckt, das er von der Schusterbank seines Vaters genommen hatte. Er wagte sich aus dem Ghetto hinaus und begab sich zu der Wohnung Andrejews, des Judenhassers.