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Exodus Page 29


  Die Engländer ersuchten Ari ben Kanaan dringend, an den Kai zu kommen, damit man den Kindern ärztliche Pflege angedeihen lassen und das Schiff inspizieren und überholen könnte. Ben Kanaan war einverstanden. Als die Exodus anlegte, begann in Kyrenia eine fieberhafte Tätigkeit. An die zwanzig englische Militärärzte kamen an Bord und ließen die schwereren Fälle rasch an Land schaffen. Im Dom-Hotel wurde in aller Eile ein improvisiertes Lazarett eingerichtet. Wagenkolonnen brachten Verpflegung und Bekleidung heran. Die Bevölkerung von Zypern schickte Geschenke. Ingenieure der englischen Flotte inspizierten den alten Dampfer von vorn bis achtern, um jedes Leck zu dichten, den Motor zu überholen und das ganze Schiff auszubessern. Sanitätertrupps desinfizierten das Schiff bis in den letzten Winkel.

  Nach einer ersten Überprüfung teilte man Ari mit, daß es mehrere Tage dauern werde, ehe die Kinder soweit gekräftigt seien und die Exodus instand gesetzt sei. Schiff und Passagiere konnten erst dann die rund sechsunddreißigstündige Reise nach Palästina überstehen. Die kleine jüdische Gemeinde von Zypern schickte eine Abordnung zu Ari mit der Bitte, er möge den Kindern erlauben, vor der Abfahrt den ersten Abend des kurz bevorstehenden Chanukka-Festes auf Zypern zu feiern. Ari war auch damit einverstanden.

  Erst nachdem man Kitty immer wieder versichert hatte, daß Karens Zustand nicht bedrohlich sei, gestattete sie sich den Luxus eines heißen Bades. Sie aß ein dickes Steak, trank einen doppelten Whisky und schlief danach herrlich und tief, siebzehn Stunden lang.

  Als sie erwachte, sah sie sich einem Problem gegenüber, dem sie nicht länger ausweichen konnte. Sie mußte sich entscheiden, entweder die Episode mit Karen für immer zu beenden oder dem Mädchen nach Palästina zu folgen.

  Als Mark gegen Abend zum Tee in Kittys Zimmer kam, war ihr von den hinter ihr liegenden Strapazen nichts mehr anzusehen. Nach dem langen Schlaf sah sie im Gegenteil ausgesprochen gut aus.

  »Im Presseraum noch immer hektischer Betrieb?«

  »Nein«, sagte Mark, »nicht mehr. Die Hauptleute und die Könige sind im Aufbruch. Die Exodus ist eine Neuigkeit von vorgestern. Na, ich nehme an, daß wir noch einen letzten Bericht auf der ersten Seite herausschlagen können, wenn das Schiff in Haifa landet.«

  »Die Menschen sind treulos.«

  »Nein, Kitty, das sind sie nicht. Aber die Welt hat nun einmal die Angewohnheit, sich weiterzudrehen.«

  Kitty nahm einen Schluck von ihrem Tee und versank in Schweigen. Mark steckte sich eine Zigarette an und legte die Füße auf das Fensterbrett. Er tat, als wären seine Finger eine Pistole, mit der er über die Spitzen seiner Schuhe auf die Pier zielte.

  »Und was hast du jetzt vor, Mark?«

  »Ich? Der alte Mark Parker ist in den Domänen Seiner Majestät nicht mehr gern gesehen. Ich gehe zunächst in die Staaten zurück, und dann mache ich vielleicht mal einen Abstecher nach Asien. Das hat mich sowieso schon immer gereizt. Wie ich höre, geht es dort drunter und drüber.«

  »Du meinst, die Engländer würden dich nach Palästina nicht hineinlassen?«

  »Völlig ausgeschlossen. Ich habe mich sehr unbeliebt gemacht. Hätte es sich nicht um korrekte Engländer gehandelt, würde ich sogar sagen, sie hassen mich wie die Pest. Aber, ehrlich gestanden, ich kann ihnen das nicht übelnehmen.«

  »Gib mir eine Zigarette.«

  Mark zündete eine Zigarette an und gab sie ihr. Dann machte er mit seiner imaginären Pistole weiter Zielübungen und wartete ab.

  »Du bist ein Scheusal, Mark! Ich hasse deine überhebliche Art, meine Gedanken zu lesen.«

  »Du bist ein emsiges kleines Mädchen. Du warst bei den Engländern und hast sie um die Einreisegenehmigung nach Palästina gebeten. Wie höfliche Leute, die sie nun einmal sind, haben sie dir mit einer Verbeugung die Tür aufgemacht. Du bist für sie einfach eine saubere Amerikanerin, die ihre Pflicht getan hat. Daß du so ein bißchen für Aliyah Bet gearbeitet hast, davon weiß man bei der CID natürlich nichts. Also fährst du nun, oder fährst du nicht?«

  »Gott, ich weiß nicht.«

  »Du meinst, du hast dich noch nicht dazu überreden können?«

  »Ich meine, daß ich es nicht weiß.«

  »Was möchtest du nun — soll ich dir abraten oder zuraten?«

  »Du könntest endlich aufhören, dich wie ein Buddha zu benehmen, der von seiner Höhe lächelnd auf die armen Sterblichen und ihre Nöte herabschaut. Und du könntest aufhören, aus dem Hinterhalt auf mich zu schießen.«

  Mark nahm die Füße vom Fensterbrett und sagte: »Dann geh doch — geh in Gottes Namen nach Palästina. Das wolltest du doch hören, nicht wahr?«

  »Ich fühle mich noch immer unbehaglich, wenn ich unter lauter Juden bin — ich kann mir nicht helfen.«

  »Du fühlst dich aber gar nicht unbehaglich, wenn du mit diesem Mädchen zusammen bist? Oder? Erinnert sie dich immer noch an deine Tochter?«

  »Nein, nicht mehr, eigentlich gar nicht. Dazu ist sie eine viel zu ausgeprägte Persönlichkeit. Aber ich liebe sie und möchte sie gern bei mir haben, falls das der Sinn deiner Frage gewesen sein sollte.« »Ich hätte Sie gern noch etwas gefragt, Mrs. Fremont.«

  »Bitte.«

  »Liebst du eigentlich Ari ben Kanaan?«

  Ob sie Ari ben Kanaan liebte? Sicher, sie verspürte jedesmal eine starke Wirkung, wenn er in ihrer Nähe war, mit ihr sprach oder sie ansah, ja sogar, wenn sie nur an ihn dachte. Sie hatte noch nie einen Mann gekannt, der so war wie er. Sie hatte ein bißchen Angst vor seiner Verschlossenheit, seiner Beherrschtheit und seiner Energie. Sie war voller Bewunderung für seinen Mut und seine Kühnheit. Sie wußte auch, daß es Augenblicke gab, in denen er ihr so zuwider war, wie ihr noch nie irgendein anderer Mensch zuwider gewesen war. Aber ob sie ihn liebte?

  »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »So wenig ich imstande bin, sehenden Auges in diese Sache hineinzugehen — ebensowenig scheint es mir möglich, mich davon zu entfernen. Und ich weiß nicht, warum — ich weiß es einfach nicht.«

  Später saß Kitty über eine Stunde an Karens Bett in der Krankenstation, die man im zweiten Stock des Hotels eingerichtet hatte, Das Mädchen hatte sich erstaunlich rasch erholt. Die Ärzte waren sehr beeindruckt von der geradezu magischen Wirkung, die die zwei Worte »Erez Israel« auf alle Kinder hatte. Diese beiden Worte vermochten mehr als irgendeine Medizin. Während Kitty bei Karen saß, betrachtete sie die Gesichter der Kinder in den anderen Betten. Was für Menschen waren das? Woher kamen sie? Wohin gingen sie? Was für sonderbare Wesen, besessen und angetrieben von einem seltsamen, unbegreiflichen Fanatismus.

  In dem Gespräch zwischen Kitty und Karen entstanden immer wieder lange Pausen, in denen es beide nicht wagten, die Frage anzuschneiden, ob Kitty mit nach Palästina käme. Schließlich schlief Karen ein. Kitty sah sie lange an, dann küßte sie Karen auf die Stirn und strich ihr über das Haar, und Karen lächelte im Schlaf. Draußen auf dem Korridor begegnete sie Dov Landau, der ruhelos auf und ab ging. Beide blieben stehen, starrten einander an, und Kitty ging wortlos an ihm vorüber.

  Die Sonne versank im Meer, als Kitty in den Hafen kam. Am Kai standen Seew Gilboa und Joab Yarkoni und überwachten das Verladen von Kisten auf die Exodus. Kitty sah sich nach Ari um, doch er war nicht zu sehen.

  »Schalom, Kitty!« riefen Seew und Joab ihr zu.

  »Hello!« rief sie zurück.

  Sie ging den Kai entlang und auf der Mole hinaus zum Leuchtturm. Es wurde kühl, Kitty zog ihre Wolljacke an. Ich muß dahinterkommen, ich muß, muß, muß, sagte sie sich immer wieder. Am Ende der Mole sah sie David ben Ami sitzen. Er schien in Gedanken verloren, sah aufs Meer hinaus und warf flache Steine über das Wasser. Sie ging zu ihm hin; er blickte auf und lächelte. »Schalom, Kitty. Sie sehen ausgeruht aus.«

  Sie setzte sich neben ihn. Eine Weile bewunderten beide schweigend den Sonnenuntergang.

  »Denken Sie an zu Hause?« fragte Kitty schließlich.

  »Ja.«

  »An Jordana — so heißt sie doch, nicht wahr — Aris Schwester?« David nickte.

  »Werden Sie sie sehen?«

  »Wenn ich Glück habe, werden wir ein bißchen Zeit füreinander haben.
«

  »David —.«

  »Ja?«

  »Was wird aus den Kindern?«

  »Wir werden gut für sie sorgen. Sie sind unsere Zukunft.«

  »Ist die Situation in Palästina gefährlich?«

  »Ja, die Situation ist außerordentlich gefährlich.«

  Danach schwiegen beide wieder eine ganze Weile. Dann fragte David:

  »Fahren Sie mit uns?«

  Kitty stockte das Herz. »Warum fragen Sie?«

  »Es scheint allmählich so selbstverständlich, daß Sie bei uns sind. Außerdem erwähnte Ari irgend etwas davon.«

  »Wenn — wenn Ari daran interessiert ist, warum fragt er mich dann nicht?«

  David lachte. »Ari bittet nie einen Menschen um irgend etwas.« »David«, sagte Kitty plötzlich, »Sie müssen mir helfen. Ich bin völlig ratlos. Sie scheinen der einzige zu sein, der ein bißchen Verständnis dafür hat —.«

  »Wenn ich kann, helfe ich Ihnen gern.«

  »Ich bin in meinem Leben noch nie unter lauter Juden gewesen. Ihr seid mir fremd, ich finde euch so rätselhaft.«

  »Wir Juden erscheinen uns selbst womöglich noch rätselhafter«, sagte David.

  »Darf ich ganz offen sein? Ich komme mir so als Außenseiter vor.« »Das ist völlig normal, Kitty. Geht den meisten Leuten so. Wir sind schon eine sonderbare Gesellschaft.«

  »Aber jemand wie dieser Ari ben Kanaan. Was ist das für ein Mensch? Wie ist er wirklich? Ist er überhaupt eine reale Person?« »Ari ist durchaus real. Er ist das Produkt einer historischen Fehlentwicklung.«

  Sie gingen zum Hotel zurück, da es Zeit zum Abendessen war.

  »Ich weiß nicht recht, wo man eigentlich anfangen soll«, sagte David. »Doch mir scheint, wenn man die Geschichte Ari ben Kanaans richtig erzählen will, dann muß man bei Simon Rabinski anfangen, einem russischen Juden, der im Ghetto von Schitomir lebte. Ja, ich glaube, man muß zurückgehen bis vor die Jahrhundertwende. Wenn ich mich recht erinnere, ereignete sich die entscheidende Wende im Jahre 1884.«

  II.

  Simon Rabinski war ein Schuhmacher. Seine Frau hieß Rachel. Sie war ihm ein gutes und treues Weib. Simon hatte zwei Söhne, und diese Söhne waren sein größter Schatz.

  Jakob, der Jüngere, war vierzehn Jahre alt. Er war ein Hitzkopf, mit scharfer Zunge und von raschem Geist. Er war jederzeit sofort bereit, ein Streitgespräch zu beginnen.

  Yossi, der ältere der beiden Brüder, war sechzehn. Seine Erscheinung war auffallend. Er war ein athletischer Bursche von über einsachtzig und mit dem brandroten Haar, wie es seine Mutter Rachel hatte. Er war ebenso sanft, wie sein Bruder Jakob wild war. Die Familie Rabinski war sehr arm. Sie lebte in dem südwestlichen Teil von Rußland, der Bessarabien, die Ukraine, die Krim und Teile von Weißrußland umfaßte und als jüdische Zone bekannt war. Die Grenzen dieser Zone, der einzigen, in der Juden in Rußland ansässig sein durften, waren im Jahre 1804 festgesetzt worden, und das ganze Gebiet war nichts als ein riesiges Ghetto.

  Die Abgrenzung dieses jüdischen Wohngebiets war nur ein Ereignis in einer jahrhundertelangen Geschichte von Verfolgung und Diskriminierung. Diese jahrhundertelange Verfolgung erreichte einen kritischen Höhepunkt in der Regierungszeit Katharinas I., als eine Reihe von Pogromen gegen diejenigen Juden stattfand, die nicht gewillt waren, zum griechisch-katholischen Glauben überzutreten. Da alle Versuche, die Juden zu bekehren, völlig vergeblich waren, vertrieb Katharina I. schließlich einige tausend Juden aus Rußland. Die meisten von ihnen gingen nach Polen.

  Es folgte die Zeit der Eroberungskriege, in denen Polen erobert und wieder erobert, geteilt und erneut geteilt wurde. Katharina II. erbte dabei die Juden, die vorher von Katharina I. vertrieben worden waren.

  Diese Ereignisse führten in direkter Folge zur Errichtung des abgegrenzten jüdischen Wohngebietes. Im Jahre 1827 wurden die Juden erbarmungslos aus den kleineren Ortschaften in die bereits überfüllten jüdischen Viertel der größeren Städte getrieben. Im gleichen Jahr ordnete der Zar an, daß jährlich eine bestimmte Anzahl

  von Juden als Rekruten in das russische Heer einzutreten und eine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit abzuleisten hätten.

  Simon Rabinski, Schuhmacher im Ghetto von Schitomir, sein treues Weib Rachel und seine Söhne Jakob und Yossi waren Gefangene des jüdischen Wohngebietes und einer ganz bestimmten, feststehenden Lebensform. Zwischen den jüdischen Gemeinden und der übrigen russischen Bevölkerung bestanden keinerlei gesellschaftliche und sehr wenig geschäftliche Verbindungen. Die einzigen regelmäßigen Besucher, die aus der Außenwelt in die abgeschlossene Welt der Juden kamen, waren die Steuereinnehmer, die alles, was nicht niet-und nagelfest war, mitgehen ließen. Häufige, wenn auch nicht ebenso regelmäßige Besucher waren wilde Horden von Kosaken, Bauern und Studenten, die es nach Judenblut dürstete.

  In ihrer Isolierung empfanden die Juden nur geringe oder gar keine Loyalität für »Mütterchen Rußland«. Ihre Umgangssprache war nicht Russisch, sondern Jiddisch. Die Sprache ihrer Gebete war das alte Hebräisch. Die Juden unterschieden sich von ihrer russischen Umwelt vor allem auch durch ihre Kleidung. Sie trugen schwarze Hüte und lange Kaftane. Obwohl es durch Gesetz streng verboten war, trugen viele von ihnen Schläfenlocken, und es war ein für die Russen beliebter Sport, einen Juden zu fangen und ihm seine langen Locken abzuschneiden.

  Simon Rabinski lebte nicht anders, als sein Vater und sein Großvater im Ghetto gelebt hatten. Da sie so arm waren, wurde lange um ein paar Kopeken gefeilscht. Dennoch aber, ungeachtet allen Elends der tragischen Existenz, hielten sich Simon Rabinski und alle anderen Juden innerhalb des Ghettos bei allen geschäftlichen Dingen an einen starren Ehrenkodex. Niemand durfte seinen Nachbarn schädigen, betrügen oder bestehlen.

  Das Leben der Gemeinde bewegte sich um einen Mittelpunkt, den die göttlichen Gesetze, die Synagoge und der Rabbi darstellten. Der Rabbi war Lehrer, geistiger Führer, Richter und Gemeindevorsteher in einer Person. Rabbis waren zumeist große Gelehrte. Ihre Weisheit war häufig allumfassend, und ihre Autorität wurde nur selten, eigentlich fast nie, angezweifelt.

  Viele Leute behaupteten, Simon Rabinski, der Schuhmacher, würde an Weisheit nur hinter dem Rabbi selbst zurückstehen. Im jüdischen Wohngebiet, wo fast alle arm waren und Not litten, war Weisheit der Maßstab für den Wohlstand eines Mannes. Simon versah in der Synagoge das Amt eines Vorbeters. Außerdem wurde er Jahr für Jahr in ein oder zwei hohe Ämter der jüdischen Gemeinde gewählt. Es war Simons höchster Wunsch, seine Söhne mit der Sehnsucht nach all dem Wunderbaren zu erfüllen, das der Geist zu erringen vermochte.

  Die Juden nannten ihren Talmud ein »Meer«, und sie behaupteten, dieses Meer sei so groß, daß man niemals an das andere Ufer gelangen könnte, selbst wenn man sein ganzes Leben ausschließlich dem Studium des Talmud widme.

  An einem Abend jeder Woche wurde Simon Rabinski und jeder andere Ghetto-Jude zu einem König. An diesem Abend ertönte im Ghetto das Horn, das zum Sabbath rief. Dann legte Simon das Werkzeug aus der Hand und machte sich bereit für den Tag, der seinem Gott gewidmet war. Wie liebte er den Klang des Horns! Es war der gleiche Ton, der die Menschen seines Volkes viertausend Jahre lang zum Gebet und zur Schlacht gerufen hatte. Dann ging Simon in das rituelle Bad, während sein braves Weib Rachel die Sabbathkerzen entzündete und ein Gebet sprach. Simon zog sein Sabbathgewand an, einen langen schwarzen Kaftan aus Seide und einen prächtigen, pelzverbrämten Hut. Stolz ging er zur Synagoge, Yossi an der einen und Jakob an der anderen Hand.

  Kamen sie wieder nach Haus, so versammelte man sich zum Sabbathmahl, an dem nach alter Tradition eine Familie teilnahm, die noch ärmer war als die seine. Die Kerzen brannten, auf dem Tisch standen Brot und Sabbathwein, und Simon sprach den Segen und dankte Gott.

  Am Sabbath betete und meditierte Rabinski. Er sprach mit seinen Söhnen und fragte sie nach dem, was sie gelernt hatten, behandelte mit ihnen religiöse und philosophische Fragen.

  War der Sabbath vorbei, so kehrte Simon Rabinski in die bittere Wirklichkeit seines Lebens zurück. In dem feuchten Keller, der Werkstatt und Heim zugleich war, saß er bei Kerzenlicht über seine Sc
husterbank gebeugt und führte mit seinen faltigen Händen kunstgerecht ein Messer durch das Leder.

  Simon Rabinski war ein frommer Mann. Doch selbst ein Mann von seiner großen Frömmigkeit konnte die Augen nicht vor dem Elend verschließen, das ihn rings umgab. »Wie lange noch, o Herr, wie lange?« fragte er dann wohl. »Wie lange sollen wir noch in diesem Abgrund der Finsternis verbringen?« Doch sein Herz wurde leicht und Begeisterung ergriff ihn, wenn er seine Lieblingsstelle aus dem Pessachgebet wiederholte: »Nächstes Jahr in Jerusalem!«

  Nächstes Jahr in Jerusalem?

  Würde es jemals kommen, dieses Nächste Jahr? Würde der Messias je erscheinen und sie in die Heimat führen?

  III.

  Nicht nur die Juden lebten in bitterem Elend. Ganz Rußland, besonders die Landbevölkerung, wurde immer wieder von Hungersnöten heimgesucht. Die Herren des Landes verharrten in den Anschauungen des Feudalismus, widersetzten sich der Industrialisierung und beuteten ihre Untertanen aus.

  Das Volk murrte; es gärte im ganzen Land, überall entstanden Reformbewegungen, bildeten sich Gruppen, die bestrebt waren, die bestehenden Zustände zu ändern und bessere Lebensbedingungen herbeizuführen. Zwar hatte sich Zar Alexander II. endlich bereit gefunden, die Leibeigenschaft aufzuheben und einige Bodenreformen durchzuführen; doch diese Maßnahmen kamen zu spät und waren völlig unzureichend.

  In dem Bestreben, die Aufmerksamkeit des Volkes von den wahren Ursachen der Mißstände abzulenken, beschlossen die Drahtzieher, die dem Zaren zur Seite standen, den Antisemitismus als politische Waffe zu verwenden. Sie starteten eine Kampagne, bei der sie die Anzahl der jüdischen Mitglieder der verschiedenen Reformbewegungen übertrieben hoch angaben und behaupteten, es handle sich nur um ein Komplott jüdischer Anarchisten, die darauf ausgingen, das zaristische Regime um des eigenen Profits willen zu stürzen.

  Der jahrhundertealte Judenhaß, der auf religiöser Intoleranz, Aberglauben und Unwissenheit beruhte, erhielt neue Nahrung und wurde heimlich und planmäßig gefördert. Es kam zu blutigen Pogromen, die von der russischen Regierung stillschweigend geduldet, oft sogar gebilligt, wenn nicht gefördert wurden.