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  Dov Landau kam an den Tisch und blieb davor stehen. Der Arzt sah Dov flüchtig an und sagte: »Rechts!«

  Dov lächelte und sagte seelenruhig: »Ich glaube, Herr Doktor, Sie irren sich. Ich bin nämlich Spezialarbeiter — Fachmann für Fälschungen. Schreiben Sie Ihren Namen da auf das Stück Papier, dann werde ich es Ihnen beweisen.«

  Der Arzt lehnte sich verblüfft in seinem Stuhl zurück. Dovs Kaltblütigkeit imponierte ihm. Der Knabe wußte offensichtlich genau, was ihm bevorstand. Der monotone Todesmarsch stockte plötzlich. Dann faßte sich der Arzt und lächelte höhnisch. Zwei SS-Männer ergriffen Dov und schleppten ihn fort.

  »Halt!« rief der Arzt. Er sah Dov noch einmal an und befahl ihm, wieder an den Tisch zu kommen. Sicher versuchte der Junge nur zu bluffen. Der Arzt war schon entschlossen, Dov durch die Tür nach rechts zu schicken, doch dann gewann seine Neugier die Oberhand. Er nahm einen Block und kritzelte seinen Namen darauf.

  Dov schrieb sechs Wiederholungen des Namenszuges auf den Block und gab ihn zurück. »Können Sie mir sagen, welche davon Ihre Unterschrift ist?« fragte er.

  Ein halbes Dutzend SS-Leute sah dem Arzt über die Schulter und machte erstaunte Augen. Der Arzt warf nochmals einen Blick auf Dov und sagte dann leise etwas zu einem der SS-Leute, der sich daraufhin entfernte.

  »Bleib da an der Seite stehen«, sagte der Arzt.

  Dov blieb neben dem Tisch stehen und sah die Reihe der Menschen herankommen, von denen pro Minute vier zum Tode verurteilt wurden.

  Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten vergingen. Die Schlange, die sich vom Bahnsteig hereinwand, schien ohne Ende.

  Der SS-Mann kam mit einem anderen zurück, der ein hohes Tier zu sein schien, denn seine Brust war bedeckt mit Orden und Ehrenzeichen. Der Arzt übergab dem Offizier den Block mit den Unterschriften, die dieser sich fast eine Minute lang aufmerksam ansah.

  »Wo hast du das gelernt?« fragte er.

  »Im Warschauer Ghetto.«

  »Was kannst du?«

  »Ich kann Pässe fälschen, Ausweise, Formulare, Banknoten — alle Arten von Dokumenten.«

  »Komm mit.«

  Dov ging durch die linke Tür hinaus. Als er in dem Lastwagen saß, der zum Lager Auschwitz fuhr, erinnerte er sich daran, was sein Bruder Mundek gesagt hatte. »Wenigstens einer von der Familie Landau muß mit dem Leben davonkommen.« Kurz darauf fuhr der Lastwagen durch den Haupteingang des Lagers Auschwitz. Über dem Eingang hing ein Schild: ARBEIT MACHT FREI.

  Meilenweit erstreckten sich die hölzernen Baracken des Hauptlagers durch das schlammige Gelände, Block neben Block, voneinander getrennt durch hohe Wände aus elektrisch geladenem Stacheldraht. In diesen Baracken hausten die Arbeitskräfte, mit denen an die dreißig zusätzliche Zwangsarbeitslager versorgt wurden. Alle Lagerinsassen trugen einen blau-weiß gestreiften Sträflingsanzug und auf der linken Brustseite und am rechten Hosenbein ein farbiges Dreieck: bei den Homosexuellen war das Dreieck rosa, bei den »Asozialen« war es schwarz, bei den Kriminellen grün, bei den Bibelforschern violett, bei allen »Politischen« rot, und bei den Juden war es der traditionelle Davidstern. Außerdem bekam Dov, genau wie alle anderen in Auschwitz, noch ein weiteres Erkennungszeichen: eine Nummer, die auf seinen linken Unterarm tätowiert wurde. Dov Landau war jetzt ein blau-weiß gestreifter Jude mit der Nummer 359195.

  ARBEIT MACHT FREI.

  Dov Landau beging in Auschwitz seinen vierzehnten Geburtstag, und sein Geburtstagsgeschenk war die Tatsache, daß er noch lebte. Verglichen mit den vielen Tausenden der anderen Häftlinge war sein Los nicht einmal das schlechteste, denn er und die paar anderen Fälscher gehörten sozusagen zur Elite. Seine Arbeit bestand darin, Ein- und Fünf-Dollar-Noten zu fälschen, die für Agenten der deutschen Spionage im Westen gebraucht wurden. Und doch fragte sich Dov nach einiger Zeit, ob es nicht besser gewesen wäre, in Birkenau zu sterben.

  Hier in Auschwitz war die Ernährung völlig unzureichend. Die zu Skeletten abgemagerten Häftlinge wurden unbarmherzig an die Arbeit getrieben. Fünf Stunden Schlaf, die man ihnen zugestand, mußten sie eng zusammengepfercht auf Brettern verbringen. Epidemien brachen aus. Die Lagerinsassen wurden gequält, geschlagen, gefoltert, in den Wahnsinn getrieben, erniedrigt. Sie waren allen überhaupt nur denkbaren Grausamkeiten ausgesetzt. Jeden Morgen fand man Dutzende, die sich erhängt oder ihrer Qual ein Ende gemacht hatten, indem sie in den elektrisch geladenen Stacheldraht gerannt waren. Die Strafkompanie lebte in dunklen Einzelzellen und wurde mit versalzenem Gemüse überfüttert, das einen unstillbaren Durst hervorrief.

  Hier in Block X benutzte Dr. Wirth Frauen als Versuchskaninchen und Dr. Schumann sterilisierte sie durch Kastration und Röntgenstrahlen. Clauberg entfernte Eierstöcke und Dr. Dehring machte 17 000 chirurgische Experimente ohne Betäubung.

  Das war Auschwitz, und so sah das Leben aus, das man Dov Landau geschenkt hatte. ARBEIT MACHT FREI.

  »Einer von der Familie Landau muß überleben«, hatte Mundek gesagt. Wie hatte Mundek überhaupt ausgesehen? Er konnte sich kaum noch erinnern. Oder Ruth oder Rebekka, oder seine Mutter, sein Vater? An seinen Vater hatte er gar keine Erinnerung mehr. Sein Gedächtnis wurde von Tag zu Tag schwächer, ganz nebelhaft wußte er nur noch um seine Vergangenheit. Für ihn gab es jetzt nur Todesfurcht und Schrecken, und ein Leben ohne diese ständige Angst vor Tod und Mißhandlung lag bereits außerhalb seines Vorstellungsvermögens.

  So verging ein Jahr. In Birkenau kamen und gingen die Züge. Die Zahl derer, die in den Arbeitslagern rund um Auschwitz ums Leben kam, zu Tode gequält wurde, verhungerte oder einer Seuche erlag, war fast genauso erschreckend hoch wie die Rekordzahlen von Birkenau. Doch irgendwie gelang es Dov, seinen Verstand nicht zu verlieren und sich mit der instinktiven Wachheit eines wilden Tieres am Leben zu erhalten.

  Selbst in der Finsternis dieser Hölle gab es gewisse Lichtblicke. Es gab ein Lagerorchester. Es gab eine illegale Organisation, und diese Organisation verfügte über einen Radioempfänger.

  Im Sommer des Jahres 1944 wurde das gesamte Lager von einer seltsamen Unruhe erfaßt. Immer häufiger waren russische Bomber am Himmel zu sehen, und Geheimsender meldeten deutsche Niederlagen. Das Dunkel und die Qual wurden von einem ersten schwachen Hoffnungsschimmer erhellt. Jeder neue Sieg der Alliierten versetzte die SS-Leute in wütende Mordlust, so daß sich die Häftlinge stets vor neuen Meldungen deutscher Niederlagen fürchteten. In Birkenau wurde noch fieberhafter gearbeitet, bis die Gaskammern schließlich fast Tag und Nacht in Betrieb waren.

  Im Herbst wurde es immer klarer, daß die Deutschen den Krieg verloren hatten. Sie wurden an allen Fronten geschlagen. Doch je mehr Niederlagen sie einstecken mußten, um so größer wurde ihr Eifer auf dem Gebiet der Massenliquidierung.

  Im Oktober 1944 unternahmen die Sonderkommandos von Birkenau einen verzweifelten Aufstand, bei dem eines der Krematorien in die Luft gesprengt wurde. Immer wieder kam es vor, daß sich die Sonderkommandos auf SS-Leute stürzten und sie mitsamt ihren Hunden in die Verbrennungsöfen warfen. Schließlich wurden sämtliche Angehörige der Sonderkommandos erschossen und das Lager forderte in Auschwitz neue Sonderkommandos an.

  Eichmann unternahm noch eine letzte Anstrengung. Zwanzigtausend Juden, die Creme des europäischen Judentums, die sich bisher auf tschechischem Boden im Lager Theresienstadt »unter garantiertem Schutz« befunden hatten, wurden jetzt ebenfalls nach Birkenau in Marsch gesetzt. Zur Vernichtung.

  Die Zahl der in Birkenau umgebrachten Juden stieg immer mehr an und erreichte schließlich die unvorstellbare Höhe von einer Million aus Polen, fünfzigtausend aus Deutschland, hunderttausend aus Holland, hundertfünfzigtausend aus Frankreich, fünfzigtausend aus Österreich und der Tschechoslowakei, fünfzigtausend aus Griechenland, zweihundertfünfzigtausend aus Bulgarien, Italien, Jugoslawien und Rumänien und dazu schließlich noch eine Viertelmillion aus Ungarn.

  Und Tag für Tag während dieses makabren Vernichtungsfeldzuges ertönte der Ruf nach weiteren Sonderkommandos.

  Im November wurde die Fälscherwerkstätte in Auschwitz plötzlich geschlossen, und alle, die darin gearbeitet hatten, wurden nach Birkenau geschickt u
nd dort als Sonderkommando verwendet.

  Dovs neue Tätigkeit bestand darin, auf dem Korridor vor den Gaskammern zu warten, bis die Menschen vergast worden waren. Zusammen mit den anderen, die als Sonderkommando eingesetzt waren, wartete er, bis die Schreie der Sterbenden und das irre Hämmern gegen die eisernen Türen aufgehört hatten. Sie warteten weitere fünfzehn Minuten, bis das Gas abgezogen war. Dann öffneten sie die Türen der Gaskammern. Zusammen mit den anderen mußte Dov das grauenhafte Gewirr ineinander verkrampfter Arme und Beine mit Stricken und Haken entwirren, die Toten herausholen und auf Karren laden, mit denen sie zu den Verbrennungsöfen gebracht wurden. Waren die Leichen entfernt, mußte er in die Gaskammern hineingehen, den Boden mit einem Wasserschlauch abspritzen und den »Duschraum« für die nächsten Opfer herrichten, die bereits in den Auskleideräumen warteten. Drei Tage lang war Dov mit dieser grauenhaften Arbeit beschäftigt. Sie verschlang den letzten Rest seiner Kraft, und der unbeugsame, zähe Lebenswille, der ihn bis hierher aufrechterhalten hatte, schien zu erlöschen. Er fürchtete sich stets vor dem Augenblick, da sich die eiserne Tür öffnete. Der Gedanke daran war schrecklicher als die Erinnerung an das Ghetto oder den Kanal. Er wußte, daß er nicht imstande war, diesen grauenhaften Anblick noch oft zu ertragen.

  Doch dann geschah etwas völlig Unerwartetes! Die Deutschen gaben Befehl, die Verbrennungsöfen abzubrechen und die Gaskammern zu sprengen! Die Alliierten rückten vom Westen und die Russen vom Osten immer näher. Die Nazis machten verzweifelte Anstrengungen, um die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Überall in Polen wurden die Massengräber geöffnet und die Knochen der Leichen zerstückelt und zerstreut. Von der deutschen Wehrmacht dringend benötigte Transportmittel wurden dazu verwendet, die Juden nach Deutschland zu bringen.

  Am 22. Januar 1945 erreichten Truppenteile der russischen Armee die Lager Auschwitz und Birkenau und befreiten die Häftlinge. Die Orgie des Mordens war zu Ende. Dov Landau, fünfzehnjährig, war einer der fünfzigtausend, die von den dreieinhalb Millionen polnischer Juden am Leben geblieben waren. Er hatte das Versprechen gehalten, das er seinem Bruder gegeben hatte.

  XXVI.

  Die russischen Militärärzte, die Dov untersuchten, waren erstaunt, daß der Junge die Jahre der Entbehrungen und Leiden überstanden hatte, ohne dauernden Schaden davongetragen zu haben. Er war schwächlich und unterentwickelt, zu klein für sein Alter, und er würde nie längere Zeit körperlich schwer arbeiten können, doch durch entsprechende Pflege konnte er einigermaßen in eine normale körperliche Verfassung gebracht werden.

  Etwas anderes war es mit dem psychischen Schaden, den man ihm zugefügt hatte. Der Junge hatte sich durch all die Jahre mit geradezu übermenschlicher Energie am Leben erhalten. Jetzt aber, da die beständige Anspannung nachließ, schoß ihm bei Tag und bei Nacht ein Strom quälender Bilder durch den Kopf. Er versank in tiefe Depression, und sein geistiger Zustand näherte sich bedrohlich der dünnen Grenze, die den Normalen von dem nicht mehr Normalen trennt.

  Die Wände aus Stacheldraht waren niedergerissen, die Gaskammern und die Verbrennungsöfen waren verschwunden, doch die Erinnerung an das Schreckliche war in ihm wach geblieben und noch immer schien der grauenhafte Geruch in der Luft zu hängen. Jedesmal, wenn er sich die blaue Nummer ansah, die man ihm auf den linken Unterarm tätowiert hatte, durchlebte er von neuem den schaurigen Augenblick, wenn sich die Türen der Gaskammern öffneten. Und immer wieder sah er im Geiste das Bild, wie aus einer Gaskammer in Treblinka die Leiche seiner Mutter herausgeholt wurde. Und wieder und wieder kniete er in dem Bunker im Warschauer Ghetto, hielt seine flackernde Kerze dicht über die Gesichter der Toten und fragte sich, welcher davon wohl sein Bruder Mundek sei.

  Die Juden, die in Auschwitz am Leben geblieben waren, hockten dort in mehreren Baracken zusammen. Dov konnte sich nicht vorstellen, daß es eine Welt gab, in der das Leben nicht aus Elend, Niedertracht und Qual bestand. Eine Welt, in der man nicht hungerte und fror, überstieg seine Begriffe. Selbst die Nachricht, daß die Deutschen kapituliert hätten, löste bei den Menschen in Auschwitz keine Freude aus.

  Dov Landaus Denken war vergiftet vom Haß. Er fand es schade, daß die Gaskammern verschwunden waren, denn er malte sich in Gedanken aus, wie man reihenweise deutsche SS-Leute mit ihren Hunden hineintrieb.

  Der Krieg war zu Ende, doch keiner wußte recht, was er anfangen und wohin er gehen sollte. Nach Warschau? Warschau war zweihundert Kilometer entfernt, und die Straßen waren verstopft von Flüchtlingsströmen. Und selbst wenn er es schaffen sollte, nach Warschau zu kommen, was dann?

  Das Ghetto lag völlig in Trümmern, und seine Mutter und sein Vater und seine Schwester und Mundek waren nicht mehr da, sie waren alle tot. Tagein tagaus saß Dov am Fenster und starrte stumm auf den düsteren Himmel, der wie ein Leichentuch über der Landschaft lag. Allmählich wagten sich die Juden in Auschwitz, einer nach dem andern, aus dem Lager hinaus und machten sich auf den Weg nach Haus. Und einer nach dem andern kamen sie enttäuscht und verzweifelt wieder nach Auschwitz zurück. Die Deutschen waren zwar nicht mehr da, doch die Polen machten ganz in ihrem Sinne weiter. Sie waren weder erschüttert noch entrüstet, daß man dreieinhalb Millionen Juden umgebracht hatte. Ganz im Gegenteil, überall in den Städten und Ortschaften stand es an den Wänden und schrien es die Leute: Die Juden sind am Krieg schuld! Die Juden haben den Krieg angefangen, um daran zu verdienen! An unserem ganzen Unglück sind die Juden schuld!

  Es gab nicht eine Träne für die, die umgekommen waren, doch eine Fülle von Haß gegen diejenigen, die am Leben geblieben waren. Der Mob zertrümmerte jüdische Geschäfte und verprügelte Juden, die versuchten, zu ihrem Heim und Eigentum zurückzukehren. Und so kamen alle, die sich aus dem Lager herausgewagt hatten, wieder nach Auschwitz zurück. Sie hockten in den dreckigen Baracken, verzweifelt und halb von Sinnen, und erwarteten mutlos ihr Ende. Das Schreckgespenst des Todes blieb in ihrer Mitte, und der Geruch von Birkenau hing noch immer in der Luft.

  Im Sommer 1945 kam ein Mann in das Lager, der von den Überlebenden mit Mißtrauen und Knurren empfangen wurde. Es war ein hochgewachsener, stattlicher Mann, etwas über zwanzig, mit einem mächtigen schwarzen Schnurrbart. Er hatte ein schneeweißes Hemd an, dessen Ärmel er bis über die Ellbogen aufgekrempelt hatte, und er ging durch das Lager in der ungewohnten, wunderbaren Gangart eines freien Menschen. Eine Versammlung unter freiem Himmel wurde einberufen, und die Juden kamen aus den Baracken heraus und scharten sich um ihn.

  »Mein Name ist Bar Dror, Schimschon Bar Dror«, rief der junge Mann. »Ich bin aus Palästina hierher geschickt worden, um euch alle in die Heimat zu holen!«

  Seine Worte lösten Jubelrufe und Freudentränen aus. Bar Dror wurde mit zahllosen Fragen überschüttet. Viele fielen auf ihre Knie und küßten ihm die Hände, andere wollten ihn nur einmal berühren, ihn hören, ihn sehen. Ein freier Jude, aus Palästina! Schimschon Bar Dror — Samson, Künder der Freiheit — war gekommen, um sie nach Hause zu bringen.

  Bar Dror übernahm die Leitung des Lagers und stürzte sich mit Eifer an die Arbeit. Er erklärte ihnen, daß es noch einige Zeit dauern werde, bis sie sich auf den Weg machen könnten, doch in der Zwischenzeit, bis Mossad Aliyah Bet die erforderlichen Vorbereitungen getroffen hätte, täten sie besser daran, ein menschenwürdiges Leben zu führen.

  Das Lager, dessen Insassen neue Hoffnung schöpften, bekam ein völlig verändertes Gesicht. Bar Dror organisierte Lagerausschüsse, die für Sauberkeit und Ordnung sorgten, eine Schule wurde eingerichtet, eine Theatergruppe gebildet, ein kleines Orchester gegründet und Tanzabende veranstaltet, eine Lagerzeitung wurde gedruckt, und man hielt Zusammenkünfte ab, in denen endlos über Palästina diskutiert wurde. Schimschon begann, in der Nähe des Lagers sogar eine Musterfarm einzurichten, um die Insassen landwirtschaftlich auszubilden. Als die Selbstverwaltung des Lagers endlich funktionierte, ging er daran, aus den Flüchtlingstrecks weitere Juden herauszuholen und sie gleichfalls zum Sammelplatz in Auschwitz zu bringen.

  Doch während Bar Dror und andere Mitglieder des Mossad Aliyah Bet unermüdlich tätig waren, um die Juden zu sammeln und sie aus Polen herauszuschleu
sen, waren andere Kräfte ebenso eifrig am Werke, sie in Polen festzuhalten. Überall in Europa übten die englischen Botschaften und Konsulate Druck auf die Regierungen aus, um sie zu veranlassen, ihre Grenzen für diese Flüchtlinge zu sperren. Denn, so argumentierten die Engländer, das Ganze sei ein Komplott der Zionisten aller Länder, um in der Frage des PalästinaMandats eine Lösung in ihrem Sinne zu erzwingen.

  Während dieser unterirdische Kampf zwischen den Engländern und Mossad Aliyah Bet im Gange war, erließ die polnische Regierung eine staunenerregende Verordnung. Darin hieß es, daß alle Juden in Polen zu bleiben hätten. Die polnische Regierung begründete diesen Schritt mit der Befürchtung, eine Auswanderung von Juden aus Polen könnte in der übrigen Welt den — im übrigen durchaus zutreffenden — Eindruck hervorrufen, daß Polen die Juden auch weiterhin verfolge.

  So wurden die Juden in einem Lande festgehalten, in dem man sie nicht haben wollte, und daran gehindert, in ein Land zu gehen, in dem sie willkommen waren.

  Es wurde Winter in Auschwitz, und die Zuversicht im Lager sank allmählich. Alle Anstrengungen, die Bar Dror gemacht hatte, waren vergeblich gewesen. Die Männer aus Palästina versuchten, den Lagerinsassen den politischen Kampf zu erklären, der im Gange war, doch die Überlebenden wollten sie nicht anhören. Sie interessierten sich nicht für Politik.

  Mitten im tiefen Winter kam ein zweiter Mann von Aliyah Bet ins Lager, und gemeinsam mit Bar Dror faßte er einen gewagten Entschluß. Die Gruppenleiter wurden zusammengerufen und bekamen den Auftrag, alles für den Abmarsch aus dem Lager vorzubereiten.

  »Wir müssen die tschechische Grenze erreichen«, sagte Bar Dror. »Das ist zwar nicht sehr weit, doch der Weg dahin wird schwierig. Wir können uns nicht schneller bewegen als der Langsamste von uns, und wir müssen die Straße vermeiden.« Bar Dror entfaltete eine Karte und zeichnete eine Marschroute von rund hundert Kilometern ein, durch die Karpaten und den Jablonka-Paß.

  »Und was wird, wenn wir an die Grenze kommen?« fragte einer. »Wir haben Leute von Aliyah Bet hingeschickt, die die polnischen Grenzwachen bestechen. Wenn wir in die Tschechoslowakei durchkommen, sind wir fürs erste sicher. Jan Masaryk ist unser Freund. Er wird es nicht zulassen, daß man uns wieder zurückschickt.«